Kalender Januar

Supervisionen

Die Gegenwart ist ein gefährlicher Ort.

Gleich einer fast unbemerkt herabsinkenden Feder legt sich ein neues Jahr zärtlich über unsere Augenlider. Ein einziges Zwinkern, ein brutaler, natürlicher Impuls, schon stehen wir mittendrin in einem Meer gefüllt mit neuer Zeit. Mit unseren Füßen zeichnen wir großspurige Erwartungen in den reinweißen Sand. Sehnsüchtig hoffen wir auf erfrischende Synergien, wünschen wir uns Resonanz und einmalige Erfahrungen, rechnen wir fest mit Veränderung und Wandel.

Die Natur aber hält uns vor Augen, dass die Zeit auch ohne uns existiert. Sie zieht uns zählebig hinfort, Tage wie im Wasser schwebende Inseln. Da stehen wir bereits mit einem zittrigen Fuß im neuen Horizont, halten uns die Hand vorausschauend an die Stirn, auf, auf, da – zu neuen Ufern!

Das Meer gibt, das Meer nimmt

Es zischt die Gischt, der Schaumkrone Wildheit.

Ein Prosit auf das seichte Leben, die lose Verbundenheit zum Element. Wir haben es in der Hand, geben das Ruder zu oft ab. Stellen uns in den Schatten, dem Zenit so nah. Kein Stein bleibt auf dem anderen, bist du nur bei mir! Nasse Füße in kalten Schuhen, es quietscht unter den Sohlen.

Rutschig der Griff in deinen Händen, du bleibst mir fern. Aus der Fremde ruft ein Kahn, es tost mein Blick, bin ich zu früh oder zu spät? Der Köder beißt nicht, der will nur spielen. Eine Flut an Weite, der ich mich mit dir stellen will. Zisch-zisch!

Kalender Februar
Kalender März

Kavaliersdelikt und Kaffeesatz

Einst war der Kavalier ein einfacher Pferdeknecht.

Später wurde er zum Mann mit ritterlichen Tugenden erklärt. Die Kavalkade zog nun feierlich als prächtige Prozession durch das Land. Kein Kavaliersdelikt, so eine zu Pferd kämpfende Truppe. Aber die galoppierende Mannschaft war schon damals selten mehr als die maskierte Zurschaustellung von Kraft und Geschwindigkeit.

Der Kaffeeklatsch wird gemeinhin mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert. Ausschließlich als gemütliche Plauderrunde verstanden, wird dieser aber durchaus falsch interpretiert.

Die Windkraft dieses gemeinsamen Sichtreibenlassens ist weitaus stärker, als man auf den ersten Blick meint. Der Kaffeeklatsch ist ein wertvoller Brennstoff für neue Ideen und wird so zum Gesprächsdünger für Zukunftsmusik.

Die festliche Kavalkade zieht vorbei. Das beim Kaffeesatzlesen gewonnene Vertrauen bleibt.

Alles nichts

Die Gründe, das Meer aufzusuchen, sind divers.

Und doch darf den allermeisten Besuchen, zumindest in einer gewissen Lebensphase, eine Gemeinsamkeit unterstellt werden – beim Anblick der großen, wogenden Fläche setzen sich die Dinge ins Verhältnis. Einfach dastehen, atmen und sich gegen nichts mehr sträuben. Für einen Bruchteil schrumpft alles auf Miniaturgröße, vom eigenen Leib bleibt nur noch ein Sandkorn.

Kleiner Mensch – was nun?

Dem Meer zugewandt will sich niemand länger mit Kleinigkeiten herumplagen und nur noch Wesentliches spüren. Alles weitet sich, die Größe relativiert das Ego. Schicht um Schicht entblättern wir uns und lauschen dem heftigen Flattern der Fahne im Wind.

Kalender April
Kalender Mai

Transformation

Bäume sind wie Menschen sexuelle Wesen.

Am Anfang blüht es. Die geschlechtliche Vermehrung beginnt. Die Eizelle im Fruchtknoten wird von einer fremden Polle bestäubt, durch Wind oder Tier. Es gibt aber auch Zwitter, mit Staub- und Fruchtblättern zugleich. Das Stempeln der Samen erfolgt dann ortsnah und synchron. Die Befruchtung macht, dass der Samen in der Frucht gedeiht. Als Zapfen oder Fruchtkern oder Beere, als Eichel, Kastanie oder Buchecker.

Die Frucht fällt oder weht hinfort.

Das neue Leben beginnt an einem anderen Ort. Auf einem guten Boden floriert der Keimling. Treibt Sprossen, bildet junge Blätter, die erste Rinde, frisches Holz entsteht.

Irgendwann blüht es. Irgendwann stirbt es. Irgendwie endgültig. Irgendwie ein neuer Anfang.

Nur eine Blüte am Stiel. Nur ein Samen im Wind.

Wurzelfreuden

Im Motiv der Robinsonade liegt etwas Widerspenstiges.

Hat es zunächst einmal idyllisches Potential, ist es auf Grund der unfreiwilligen Isolation ebenso unromantisch. Der ungewählten Einsiedelei entspringt aus einer geschützten Höhle eine Radikalität des Rückzugs. An die Wurzel zu gehen bedeutet, sich dem Ursprung komplexer Kompliziertheiten hinzugeben. Diese Form der Wurzelhaftigkeit im Denken begnügt sich nicht mit Zusätzen, nicht mit Referenzen, mit Fußnoten sowieso nicht.

Wirkliche Radikalität tanzt sich auf den unendlichen Verästelungen flirrender Gedanken die Seele aus dem Leib. Die endlosen Abzweigungen treiben zu schwindelartigen Positionen an. Und so findet sich in ihnen wenig Versuchendes. Dafür umso mehr die Gewissheit, dass verwurzelte Eindeutigkeiten eine wunderschöne Illusion sind.

Radikalität an sich ist und ist nicht! Allein im konkreten, selbst Erfahrenen findet sich ein Ansatz der möglichen Möglichkeiten.

Kalender Juni
Kalender Juli

Ihr Flug, Madame…

06:27 Verschlafen, aus dem Haus
06:32 Losrennen, auf den Bus warten
06:47 Umsteigen, in den Untergrund
06:49 Schwitzen, Bahn verpasst
06:50 Treppensteigen, zurück zum Bus
06:59 Warten, der kommt nicht
07:02 Nachdenken, Taxi rufen
07:05 Aufatmen, sich zurücklehnen
07:22 Fahren, auf der Autobahn
07:38 Beruhigen, schnell genug
07:46 Ankommen, sich orientieren
07:52 Hochfahren, mit der Rolltreppe
07:59 Anstellen, Sicherheitskontrolle
08:06 Fluchen, viel zu spät
08:07 Vordrängeln, entschuldigen Sie
08:10 Ausweisen, alles klar
08:13 Trinken, wo geht’s lang
08:14 Suchen, nun mach schon
08:14 Finden, auf der Spur
08:22 Ankommen, mit Tunnelblick
08:23 Anstehen, am Gate
08:26 Drankommen, alles gut
08:26 Grinsen, hier das Ticket
08:26 Blinken, vom Automaten
08:27 Piepsen, was ist nur los
08:28 Glucksen, …der geht erst morgen!

Wo Ordnung, da Widrigkeiten

Ließe sich der menschenleere Strand im Hoch-Sommer als eine Art Nicht-Ort beschreiben, so könnten sich die versandenden Erinnerungen an jene Hundstage ebenso als Mär erhitzen lassen. Die schrille Stille an solch einem Strand ohne Menschen inmitten der heißesten Jahreszeit gleicht einem Delirium. Der Schweiß ist tausendmal geschwitzt, unkontrolliert flacht die Atmung ab. Kein Schatten in Sicht. Stunde um Stunde dem Traumteint entgegenbrütend, die sonnenmilchbitter-klebrige Haut leckend, überall Salz und überall Sand.

Die Bevölkerung wächst, Horizonte verkleinern sich und seitdem selbst der Sandburgenbau an manchen Stränden als Ordnungswidrigkeit gilt (good to know: Nord- ist teurer als Ostsee), werden die Grenzen der gesetzlichen Definition ausgelotet. Ist ein aufgeschobener Haufen, auf dem ein Strandkorb thront, schon ein Regelverstoß im engeren Sinne? Im weiteren Sinne tritt die zivilisatorische Ambivalenz dahinter zutage, es soll die Küste schützen, na dann – apropos, Zeit für Sonnenschutz.

Kalender August
Kalender September

Hunde, die vorgehen

Es gibt Kriterien bei der Partnerwahl, die selbst für Außenstehende absolut nachvollziehbar sind.

Meist sind das solche, die sich nicht allein auf persönliche Vorlieben reduzieren lassen. Ausschlaggebend dabei ist vielmehr die Frage des Aufwands, den man betreiben kann oder will. Doch die Auswahl zu haben, bedeutet immer auch, sich entscheiden zu müssen. Und wer weiß schon, ob man jemals wirklich richtig liegt? Ideenreichtum sei Dank, lauert unter jedem Dilemma zugleich die kreative Kraft des Sowohl-als-auch.

So wie beim Designer-Dog namens Labradoodle.

Das Hybridwesen vereint die positiven Eigenschaften von zwei eher semiguten Zügen zu etwas Neuem, etwas weniger Kompromisslastigem. Am Ende bleibt jeder Entschluss, gleich der Reviermarkierung, die sowohl ein Gruß als auch eine Warnung sein kann, einer aus dem flüchtigen Moment heraus.

Flüchtiger Horizont

Es gibt unendlich viele Fluchtpunkte,

alle zusammengenommen bilden sie die Gerade des Horizonts — eine beunruhigende, absolute Stille — eigenwillige Grenzüberschreitungen durch die Suggestion von Geschwindigkeit und Stillstand — schattenfroh, vogelperspektivisch rennen wir durch den Sommer — ist denn Wahrnehmung ohne Perspektive überhaupt möglich? — eine offene, durchlässige Wahrnehmung, die Vordergründiges überschreitet und schließlich nur noch sich selbst genügt — übergehendes Sehen zur Orientierung als Wahrnehmungsstrategie — die ersten Brüche in der Wahrnehmung von Wirklichkeit — kein Spiegel ohne Fluchtpunkt, nur Assoziationen in Grenzgebieten — zentralperspektivisches Sehen auf der Fluchtlinie bis zur Zielgeraden — den eigenen Horizont finden, heißt den Fluchtpunkt ignorieren und Äußeres nach innen leuchten lassen.

Kalender Oktober
Kalender November

Wettererstaunliches

Sie rufen im Wind, der ihre Stimme ist.
Sie wüten im Meer, das ist ihr Zorn.
Sie wühlen im Sand, dort entspringt ihre Kraft.

Es rauscht, braust, schlägt, rieselt und tobt. Stimmungsströmungen wie Wetterlaunen. In einer plötzlich überformten und aufgewühlten Welt hört man bereits den Sturm durch die Fensterscheiben platzen. Schwer und träge knallt manchmal noch ein Lichtschein durch die Luft, zielsicher, aber aussichtslos und unbeständig.

Und da, am Ende des Sturms.

Und da, sehr weit entfernt.

Und da, am Horizont.

Zerstreuen sich die ersten Wolken wie Staub in windstiller Luft. Neues Licht macht sich zum Durchbrechen bereit, glitzert durch die Nebelwand. Dort plätschert das Wasser fröhlich und seicht, knackt es sanft und wankt seltsam entspannt. Wie das Wetter, so ist auch das Staunen ursprünglich: ein Zurücktreten vom scheinbaren Sein in das Seiende.

Knotenpunkte

Der Palstek ist der Knotenklassiker.

Der Festmacher mit der Schlinge im Auge. Knoten im Taschentuch, in der Zunge, Knoten im Haar. Immer bringt diese Form der Verschlingung un- und gewollt zusammen. Am Ende eines jeden Jahres treffen sie aufeinander: das Zurückliegende und das Bevorstehende. Losgelöst hängen sie aneinander, bedingen sich und führen doch Unabhängiges herbei. Die eigene Zeit erscheint mit einem Mal so wunderbar sortiert.

Dass an ihr nichts Chronologisches ist, sondern sie vielmehr tausendfach zeitgleich stattfindet, ahnen die meisten irgendwann. Jahreswechsel kommt nicht aus der Mode, denn die leise Sehnsucht nach [ … ] ist immer aktuell. Das ist der Moment, in dem das Ungewisse, das Unvorhergesehene einen güldenen Anstrich bekommt.

Aber Hand aufs Herz, der Rest des Jahres soll doch lieber in gewohnten Bahnen verlaufen.

Kalender Dezember

Fotos: Wolfgang Huhn, Daniel Rothen
Idee und Gestaltung: Inge Formann, Wolfgang Huhn, Daniel Rothen
Texte und Textredaktion: Alva Bruns, Ronja Rothen